Angriff und Verteidigung Krieg + Moral = Kriegsmoral

Politik

Kein Artikel oder keine Sendung über den Gaza-Krieg kommt ohne Verweis auf den 7. Oktober aus und die an dem Tag stattgefundenen Massaker.

Ein Caterpillar D9 Bulldozer mit Soldaten der Israelischen Streitkäfte (IDF) in Gaza während der Operation
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Ein Caterpillar D9 Bulldozer mit Soldaten der Israelischen Streitkäfte (IDF) in Gaza während der Operation "Swords of Iron", November 2023. Foto: IDF Spokesperson's Unit (CC-BY-SA 3.0 unported)

13. Dezember 2023
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Damit wird jedem Leser oder Zuschauer gleich eine Gewissensprüfung vorgelegt. Wie stellt er sich zum Töten von Menschen. Die Frage kommt daher als eine moralische Prinzipienfrage. Lehnt er ebenfalls das Töten von Menschen ab oder entschuldigt er diese Tat und erweist sich damit als Unmensch. Das Prinzip ernst genommen, dass jedes Töten abgelehnt würde, dann müssten die Vertreter dieses Standpunktes konsequenter Weise auch das Töten der Palästinenser durch Israel ablehnen und kritisieren. Das ist aber keineswegs der Fall, was nicht heisst, dass hier eine Doppelmoral gepflegt wird. Es werden in der Folge nämlich eine Reihe von Gesichtspunkten genannt, die diese Parteinahme ins Recht setzen sollen. Die sagen allerdings vor allem etwas über das moralische Denken selbst aus.

Frauen und Kinder

Als Beweis für die besondere Niederträchtigkeit der Hamas wird darauf verwiesen, dass sich unter den Opfern viele Kinder und Frauen befinden. Moralisch argumentierende Menschen kennen offensichtlich Unterschiede beim Töten und Morden. Unterschiede, die es aus der Perspektive der Opfer eigentlich gar nicht gibt oder geben kann. Ihnen wurde unterschiedslos das Leben genommen, tot ist tot. Anders wollen diejenigen das sehen, die sich selbst als besonders moralisch oder ethisch Urteilende verstehen.

Der Tod von Kindern gilt ihnen als besonders verabscheuenswürdig sein, weil diese unschuldige Wesen seien. Wer Kinder kennt, weiss, dass diese auch sehr gemein und brutal nicht nur gegenüber anderen Kindern sein können. Davon wird in der moralischen Betrachtungsweise abgesehen, wenn es heisst, Kinder seien unschuldig. Sie können keine Schuld auf sich geladen haben, weil sie keine fertigen Menschen sind, ihr Wille daher nicht als vollwertiger zählt. Auch eine Art und Weise auszudrücken, dass man Kinder nicht ernst nimmt.

Die besondere Abscheu gegenüber dem Töten von Frauen rührt daher, dass diese als wehrlose Wesen gelten. Eine Sichtweise, die sich nicht dadurch blamiert, dass nicht nur in der israelischen Armee viele Frauen nicht nur Uniform, sondern auch Gewehr tragen. Das Bild, das mit der moralischen Betrachtungsweise von Frauen und Männern transportiert wird, scheidet die wehrlose Frau vom Mann als Kämpfernatur, der im Kampf bestehen kann. Ganz so, als ob es im Krieg noch einen Kampf Mann gegen Mann geben würde, dem Moralisten noch einiges Positive abgewinnen können, wenn sie die Unterscheidungen zwischen den Opfern treffen. Was soll denn typisch für den Mann sein, dass dieser eher den Tod verdienen soll, als Frauen und Kinder? Sind sie an ihrem Tod mit schuld, weil sie im Kampf versagt haben?

Alle diese Unterscheidungen sind vielen Menschen geläufig, ohne dass sie über die einzelnen Implikationen gross nachdenken müssen, ebenso wie bei den folgenden.

Angriff und Verteidigung

Dass die Hamas am 7. Oktober Israel angegriffen hat, ist eine Tatsache, doch damit ist die Sachlage nicht beendet. Mit dem Verweis auf den Angriff, ist in den Augen von Moralisten auch die Schuldfrage am Konflikt geklärt und damit die Frage, für wen man Partei zu ergreifen hat. Dabei ist die Sachlage aus Sicht der Parteien nicht so eindeutig, denn so gut wie nie, betrachten Politiker oder Staatsmänner- und Frauen ihre Militäreinsätze als Angriff, sondern stets als Verteidigung ihrer Rechte. Während die Hamas es wahrscheinlich als ihr Recht auf die Verteidigung ihrer angestammten Heimat und auf einen eigenen Staat betrachtet, sieht Israel in seinen Aktionen einen Akt des Schutzes seiner Bevölkerung, obgleich Teile derselben dafür ihr Leben lassen müssen.

Als Beweis dafür, wer als Angreifer zu betrachten ist und wer sich den Titel des Verteidigers anheften darf, gilt der Verweis auf das Anfangsdatum des Konfliktes, wobei diesem Kriterium die Eindeutigkeit fehlt. Schliesslich hat es auch schon vor dem 7. Oktober militärische Auseinandersetzungen zwischen der Hamas und Israel gegeben. Raketen wurden auf Israel abgeschossen, Israel hat nicht nur den Gaza-Streifen bombardiert. Wo will man da das Anfangsdatum für den Krieg setzen und damit die Schuldfrage entscheiden? Bei der Gründung des Staates Israel und der damit verbundenen Massenvertreibung von Palästinensern oder beim Tempel Salomons und dem damit verbundenen Wohnrecht von Juden in Palästina?

An dieser Stelle ist ersichtlich, dass diese Entscheidung keine Frage der Historie ist, sondern der einer willkürlichen Setzung oder einer Voreingenommenheit. Sowohl die Unterstützer Israels wie die Unterstützer der Palästinenser suchen sich ihre Daten aus, um zu belegen, dass ihre Seite im Recht ist und damit das Recht hat, andere zu töten. So strikt die Moral zunächst antritt, in dem sie auf die Massaker vom 7.10. verweist, so gnadenlos ist sie jedoch, wenn es um das ins Rechtsetzen der Gewalt gegen die Palästinenser geht. Wer angegriffen wurde und sich verteidigt, hat damit jedes Recht, andere umzubringen.

Solidarität mit…

Mit dem Entscheid für die Parteinahme für eine Seite folgt oft auch der Aufruf zur Solidarität mit der entsprechenden Seite. Angeführt wird entweder das Schicksal von bombardierten Menschen oder das Recht auf Selbstverteidigung Israels. Mit der Forderung nach einem palästinensischen Staat wird suggeriert, dass damit das Opferdasein von Palästinensern ein Ende haben würde. Dabei hat die Aktion der Hamas gezeigt, dass sie vor Opfern nicht zurückschreckt, denn die Reaktion Israels war absehbar und damit viele Tote auf Seiten der Palästinenser.

Das Staatsgründungsprogramm der Hamas geht ebenso über Leichen wie das Staatsprogramm der Israelis, die ihren Staat als unfertig betrachten, was sich in der Vertreibung der Palästinenser im Westjordanland ablesen lässt, die unter Schutz der Armee und durch Bewaffnung der Siedler erfolgt. Abzulesen auch an den stetig ausgedehnten Siedlungen, die sich fast über die gesamte Westbank erstrecken. Gegenüber stehen sich zwei Staatsprogramme, die beide die Herrschaft über die gleiche Region beanspruchen. Hier steht Recht gegen Recht und Gewalt gegen Gewalt. Und dieser Gegensatz soll in einer Zweistaatenlösung befriedet werden?

Beide Seiten sehen in den Angehörigen der anderen Seite die Personifikation deren Staatsanspruchs und so vernichtet die Hamas alle Menschen anderer Nationen, die sich auf dem von ihrem zu schaffenden Staat aufhalten, während Israel mit seiner Strategie des Aushungerns und der flächendeckenden Bombardierung des Gaza-Streifens sowie der Aufforderung an Ägypten deutlich macht, dass es auf die Vertreibung oder Vernichtung derer aus ist, die einen Anspruch auf einen palästinensischen Staat erheben könnten.

In ihren Solidaritätserklärungen werden beide Seiten zu Opfern erklärt, was leicht zu haben ist, führen doch die Staatsprogramme zu reichlich Toten. Aus der Opferrolle erfolgt dann der Rechtsanspruch auf Gewalt gegen die andere Seite, soviel zur Humanität eines solchen Anliegens. Ginge es wirklich um die Opfer, wäre schnell klar, dass beide Seiten ihre Bürger als Material ihrer Herrschaft benutzen und über Leichen gehen. Da könnte leicht die Gemeinsamkeit derer entdeckt werden, mit der die Politiker ihr Volk behandeln. Die einen werden bombardiert, die anderen in eine Uniform gesteckt und dürfen ihren Kopf hinhalten. Schliesslich beruht noch jede Herrschaft darauf, dass ihre Untertanen ihre Pflichten erfüllen und diese nicht aufkündigen.

„Israels Sicherheit ist deutsche Staatsräson“ (rnd 30.10.2023)

Mit dieser Aussage hat Olaf Scholz das wiederholt, was bereits Angela Merkel seinerseits gegenüber Israel bekundet hat. Verwiesen wird in diesem Zusammenhang auf die Vernichtung von Juden durch die deutsche Regierung in den 30er und 40er Jahren. Aus diesem Staatsprogramm soll nun eine moralische Pflicht für alle Deutschen und auch das Land erfolgen, sich auf Seiten Israels zu stellen. Auch hier zeigt die Moral ein seltsames Gesicht. Ermordet wurden Menschen, die Solidaritätserklärung richtet sich aber an einen Staat, was ja wohl einen Unterschied ausmacht. Einen Unterschied, den in der Öffentlichkeit und in der Politik niemand mehr machen will und so wird jede Kritik an Israel unter den Antisemitismusverdacht gestellt.

Zudem handelt es sich bei Israel um einen besonderen Staat, der sich selber als Staat aller Juden betrachtet. Das Judentum kennzeichnet eine Religionszugehörigkeit. Damit stellt sich Israel in eine Reihe mit anderen Religions- oder Gottesstaaten wie Iran oder Saudi-Arabien. Gilt jetzt die Solidarität solchen Staaten? Und was ist mit den Bewohnern Israels, die nicht in die Synagoge gehen? Sind sie keine vollwertigen Bürger? Oder leitet sich die Zugehörigkeit zum Judentum aus der Abstammung ab, dann würde es sich um einen rassistischen Staat handeln?

Schlussfolgerungen

Die moralische Sicht auf die Welt wirft mehr Fragen auf, als das sie beantwortet. Umgekehrt stellt die moralische Sichtweise gleichzeitig ein Verbot dar, nach Ursachen und Gründe von Kriegen und Konflikten zu fragen. Die Benennung von Gründen für das Handeln einer Seite gilt gleichzeitig als Parteinahme für diese Seite und wird mit entsprechender Moralkeule gegeisselt.

So werden moralisch einwandfrei Denkverbote ausgesprochen, Räume entzogen, Veranstaltungen verboten und Menschen aus ihren Berufen entfernt und damit ihre Lebensgrundlage ruiniert. So gestaltet sich dann eine werteorientierte Öffentlichkeit, die daran interessiert ist, dass die Bürger alles von oben vorgegebene akzeptieren und sich nicht selber Gedanken über die Gründe von Kriegen und Armut in der Welt machen. Das könnte ja glatt zum Entzug des Gehorsams und der Pflichterfüllung führen.

Suitbert Cechura